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Geheimrede Chruschtschows Februar 1956 über Stalin - Entstalinisierung auf halbem Wege

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Geheimrede Chruschtschows Februar 1956 über Stalin - Entstalinisierung auf halbem Wege Empty Geheimrede Chruschtschows Februar 1956 über Stalin - Entstalinisierung auf halbem Wege

Beitrag von Admin Do Feb 05, 2015 10:33 pm

Artikel von Wallenstein

Am 5.März 1953 war Genosse Josef Wissarionowitsch Dschughaschwili, genannt Stalin, der Führer der fortschrittlichen Menschheit, die Inspiration der Welt,  der Vater der sowjetischen Nation, das größte Genie der Geschichte, die große Koryphäe der Wissenschaft, das größte militärische Genie aller Zeiten und welche Ehrbezeichnungen es noch gegeben haben mag, endlich auf dem Fußboden in seiner Datscha verreckt.

Der beispiellose Personenkult wurde schon kurze Zeit nach seinem Tode zurückgefahren, immer seltener erschien sein Name in den Medien. Im Februar 1956 dann der Paukenschlag: Der neue Parteichef Chruschtschow hielt in einer geschlossenen Sitzung auf dem XX. Parteitag sein berühmtes Referat über den Personenkult. Die gedruckte Fassung erschien bald im Westen, in der UDSSR und den Ostblockstaaten blieb sie einem ausgewählten Leserkreis vorbehalten. Chruschtschow bezeichnete Stalin als Paranoiker und blutrünstigen Despoten, als militärischen Dummkopf und Massenmörder.

Doch sieht man sich seine Rede genauer an, ist sie enttäuschend, eine richtige Analyse und Generalabrechnung findet sich nicht. Die wirklich großen Verbrechen werden kaum erwähnt, weder die Zwangskollektivierung und die Vernichtung der Kulaken oder die manipulierte Hungersnot in der Ukraine.

Größeren Raum findet die Behandlung der „Großen Säuberung“ von 1936 bis 1938. Allerdings, den Kampf gegen die Trotzkisten und die Anhänger von Sinowjew und Bucharin hält er für richtig und diese werden von ihm auch nicht rehabilitiert. Nur seien damals auch viele Unschuldige hingerichtet worden und er nennt die Namen zahlreicher bekannter Stalinanhänger, die seinerzeit getötet wurden. Scharf verurteilt er auch die Hinrichtungen der vielen Offiziere der Roten Armee, denn dadurch wurde deren Schlagkraft entscheidend geschwächt. Stalin hätte außerdem im Krieg viele falsche Befehle erteilt und wäre ein militärischer Dilettant  gewesen.

Marxisten betrachten Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen und das Handeln einzelner Personen, der „subjektive“ Faktor wird durch „objektive“ Verhältnisse erklärt.  Welche Klasse vertrat denn nun aber Stalin, welche „objektiven“ Bedingungen erklären den Stalinismus? Davon findet sich kein Wort. Chruschtschow hätte erklären müssen, warum sich nach der Oktoberrevolution die Bürokratie als neue Herrschaftsschicht herausbilden konnte. Doch da er selbst zu ihr gehörte, hatte er daran kein Interesse. Seine Botschaft lautete: die Partei hat recht und das System ist im Prinzip in Ordnung, nur ein einzelner ist verrückt geworden, ein Fehler, den wir nun aber korrigieren. Und gleichzeitig: Macht so weiter wie bisher, wir verschaffen euch aber Sicherheit, in Zukunft wird kein größenwahnsinniger Diktator euch unter falschen Vorwürfen verhaften und umbringen. Wer für das System ist und keine Kritik äußert, ist in Sicherheit. Nur wirkliche Konterrevolutionäre werden bekämpft, ihr nicht. Damit konnte er das System einstweilen vorübergehend stabilisieren und die Bürokratie war beruhigt.

Er hätte ruhig einmal bei den Klassikern nachschlagen können. Engels erklärt im „Anti-Dühring“, das Klassen auf zwei verschiedene Arten entstehen können und zwar durch Privateigentum (Feudalherren, Sklavenhalter, Kapitalisten), aber auch durch die Delegation von Gemeinschaftsaufgaben an einzelne Personen, also durch funktionelle Differenzierung, Personen, die dadurch eine große Macht über die Gesellschaft bekommen. Die Bürokratie gehört ohne Zweifel zu der zweiten Klassenkategorie. Sie hat kein Privateigentum, aber durch die Wahrnehmung von wichtigen Positionen übt sie Herrschaft aus und wird so zur Klasse.

Marx glaubte allerdings, dass auch solche Funktionseliten versuchen würden, ihre Macht so zu gebrauchen, dass sie langfristig ebenfalls Privateigentum erlangen. Das hat sich in der früheren UDSSR und anderen Ostblockstaaten auch bewahrheitet. Die Nomenklatura hat das staatliche Eigentum inzwischen aufgelöst und privatisiert. Aus der Funktionselite wurden ganz gewöhnliche Kapitalisten.

Die Rede findet sich unter:
http://www.1000dokumente.de/?c=dokument_ru&dokument=0014_ent&object=translation&l=de

Wer über dieses Thema diskutieren möchte, kann das hier tun:
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Beitrag von Gontscharow Mi Feb 25, 2015 10:38 am

Chruschtschow mußte einen Drahtseilakt begehen, den man unter dem Motto
"Wasche mir den Pelz, aber mache mich nicht naß" zusammenfassen könnte ...
Eine offene und ehrliche Bilanzierung der Stalindikatatur hätte zwangsläufig zu der
Erkenntnis geführt, daß das gesamte bolschewistische System, wie es sich unter
Lenin und Stalin entwickelt hat, untauglich und verbrecherisch ist.
Da er aber Teil und Anhänger des Systems war und es erhalten wollte, versuchte er, es zu verbessern, um es überleben zu lassen.
Als Ukrainer wußte Chruschtschow sehr wohl um den Holodomor, er hatte ihn schließlich
vor Ort miterlebt. Das war ein zu heißes Eisen, hätte man die Wahrheit darüber gesagt,
wäre der Bolschewismus endgültig diskreditiert gewesen. Noch heute kann und will man in
Rußland nicht zugeben, daß der Holodomor ein beabsichtigter Völkermord war - mit dem Argument, daß es auch anderswo in Rußland, in Kasachstan und ganz besonders an der Wolga
zu dieser Zeit ebenfalls eine Hungersnot gab ( und dabei jeweils die Tatsache, daß die Hungersnot in der Ukraine ABSICHTLICH von der Regierung verschärft wurde, damit möglichst viele Ukrainer sterben, verschweigend / nicht anerkennend ).

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