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Der Mittelstand - Brutstätte des Nationalsozialismus?

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Beitrag von Wallenstein Fr Jun 19, 2015 6:54 pm

Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei war, anders als es der Name vermuten lässt, weder sozialistisch  noch eine Arbeiterpartei. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass sowohl die Mitglieder als auch die Wähler überwiegend aus dem Mittelstand stammten. Ungefähr 50% der Bevölkerung gehörten in Weimar zu dieser Schicht, die ursprünglich konservative oder liberale Parteien wählte. Hitler war es gelungen, sie für seine Zwecke zu mobilisieren. Trotzki hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 1933 dies recht gut beschrieben:
 
„Das Nachkriegschaos traf die Handwerker, Krämer und Angestellten nicht weniger heftig als die Arbeiter. Die Landwirtschaftskrise richtete die Bauern zugrunde. Der Verfall der Mittelschichten konnte nicht ihre Proletarisierung bedeuten, da ja im Proletariat selbst ein riesiges Heer chronisch Arbeitsloser entstand. Die Pauperisierung der Mittelschichten – mit Mühe durch Halstuch und Strümpfe aus Kunstseide verhüllt – fraß allen offiziellen Glauben und vor allem die Lehren vom demokratischen Parlamentarismus.

Die Vielzahl der Parteien, das kalte Fieber der Wahlen, der fortwährende Wechsel der Ministerien komplizierten die soziale Krise (durch das Kaleidoskop unfruchtbarer politischer Kombinationen. In der durch Krieg, Niederlage, Reparationen, Inflation, Ruhrbesetzung, Krise, Not und Erbitterung überhitzten Atmosphäre erhob sich das Kleinbürgertum gegen alle alten Parteien, die es betrogen hatten. Die schweren Frustrationen der Kleineigentümer, die aus dem Bankrott nicht herauskamen, ihrer studierten Söhne ohne Stellung und Klienten, ihrer Töchter ohne Aussteuer und Freier, verlangten nach Ordnung und nach einer eisernen Hand. 

Die Fahne des Nationalsozialismus wurde erhoben von der unteren und mittleren Offiziersschicht des alten Heeres. Die ordengeschmückten Offiziere und Unteroffiziere konnten nicht darin einwilligen, dass ihr Heroismus und ihre Leiden nicht allein fürs Vaterland umsonst hingegeben sein, sondern auch ihnen selbst keine besonderen Rechte auf Dank gebracht haben sollten; daher stammt ihr Hass gegen die Revolution und das Proletariat. Sie waren unzufrieden damit, dass die Bankiers, Fabrikanten, Minister sie wieder in die bescheidenen Stellungen von Buchhaltern, Ingenieuren, Postbeamten und Volksschullehrern schickten – daher ihr »Sozialismus«. An der Yser und vor Verdun hatten sie gelernt, sich und andere aufs Spiel zu setzen und im Kommandoton zu reden, was dem kleinen Mann im Hinterland mächtig imponierte. So wurden diese Leute Führer.“
Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, 1933 https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1933/06/natsoz.htm

Er geht davon aus, das es sich bei den Nazis um eine eigenständige Bewegung handelte, die auch zunächst nur wenig Anklang bei den traditionellen Eliten fand und auch nicht in der Arbeiterbewegung. Die KPD glaubte hingegen, es würde sich um Marionetten des Finanzkapitals handeln. Das dürfte aber nicht zutreffen.

Der Mittelstand erhoffte sich von den Nazis Unterstützung im Kampf gegen das Großkapital und die sozialistische Arbeiterbewegung. Doch mit Kapital meinten die Nazis vor allem das jüdische Kapital, das sogenannte „raffende Kapital“ im Gegensatz zum deutschen „schaffenden Kapital“. Ihr Sozialismus hatte nichts mit dem Kommunismus zu tun.

Die Persönlichkeit und die Klasse – der Liberalismus und der Marxismus – sind das Böse. Die Nation ist das Gute. Doch an der Schwelle des Eigentums verkehrt sich diese Philosophie ins Gegenteil. Nur im persönlichen Eigentum liegt das Heil. Der Gedanke des nationalen Eigentums ist eine Ausgeburt des Bolschewismus. Obwohl er die Nation vergottet, will der Kleinbürger ihr doch nichts schenken. Im Gegenteil erwartet er, dass die Nation ihm selbst Besitz beschert und diesen dann gegen Arbeiter und Gerichtsvollzieher in Schutz nimmt.“
https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1933/06/natsoz.htm
 
Doch einmal an der Macht ist der Nationalsozialismus alles andere als eine Herrschaft des Kleinbürgertums. Die Führungsspitze geht eine Allianz ein mit den alten Eliten. In diesem Regime ist kein Platz für einen kleinbürgerlichen Sozialismus. Leute wie Röhm, die unter anderem möglicherweise solche Ideen noch hatten, bezahlten diese Illusion mit dem Leben. Doch auch 1933 war Hitler nicht einfach nur Agent des Großkapitals, sondern verfolgte auch eigenständige Interessen.

Der Mittelstand hielt ihm auch später die Treue. Der Wirtschaftsaufschwung verschaffte ihm neue Möglichkeiten in der Industrie und im Handel, die Partei schuf zahlreiche Stellen in ihren Organisationen, um ihre Getreuen unterzubringen. Der Mittelstand nahm zahlenmäßig weiter ab, doch er wurde jetzt nicht proletarisiert wie in der Weimarer Republik. Er fühlte sich nun als wichtiger Hoheitsträger.

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Beitrag von Gontscharow Sa Jun 20, 2015 12:51 am

Wer wählte die Nazis ?
Abgesehen von dem von Wallenstein schon erläuterten Umstand, daß die Zustimmung
zu ihnen im Mittelstand am größten war, kann man auch nach Regionen und Konfessionen
fragen. Schaut man auf die Wahlergebnisse bis 1932, so sieht man, daß die Nazis ihre höchsten Ergebnisse in protestantischen und ländlichen Gegenden hatten. je protestantischer und ländlicher, desto mehr Naziwähleranteil, Hochburgen waren unter anderm Pommern,Oldenburg,Schleswig-Holstein und
Ostpreußen. Je katholischer und ländlicher die Gegend, desto weniger konnten die Nazis begeistern, in meiner Heimat, dem Münsterland blieben die Wähler bis zuletzt dem katholischem Zentrum treu.
Ließen sich Katholiken also durch die Wirtschaftskrise und dem drohendem Abhleiten ins Proletariat nicht beeindrucken ?
Die Ängste teilten sie sicherlich mit ihren protestantischen, mittelständischen Landsleuten.
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Beitrag von Atzec Sa Jun 20, 2015 10:07 am

Ja, empirisch ist es ziemlich eindeutig, dass die Nazis ihren wahlpolitischen Erfolg aus den von Existenzängsten angetriebenen Mittelschichten generierten.

Diesen (Rechts)Extremismus der "Mitte" haben schon Lipset und Geiger eingehend untersucht und als Reaktion auf eine massive Bedrohung der eigenen sozialen Existenz gedeutet.
Aber man braucht nicht nur einen sozialen Träger - hier die Mittelschichten - sondern auch einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt.

Den hat m.M.n. Umberto Eco in seinem Aufsatz "Urfaschismus" (http://www.zeit.de/1995/28/Urfaschismus) treffend herausgearbeitet. Faschismus jedweder Provenienz ist demnach immer platter Eklektizismus. Er klaubt sich einfach zusammen, was er so vorfindet und radikalisiert dies lediglich. In Deutschland z.B. ist jedes einzelne Themengebiet der Nazis vortrefflich durch den Konservatismus vorbereitet. Die Nazis müssen nur noch hingehen und der Wut und Aggressivität der von sozialen Abstiegsängsten bedrohten Mittelschicht eine radikalisierte Zuspitzung des Konservatismus anbieten, die dem Bedürfnis nach lynchender Bestrafung ausgemachter Sündenböcke (Juden, Novemberverbrecher, Bolschewisten, proletarisches Gesindel...) gerecht wird.

Gontscharovs Beobachtung, dass katholische Schichten nicht so empfänglich gewesen wären für die Naziideologie, weil sie sie zurückhaltender gewählt hätten, würde ich allerdings kritisch in Zweifel ziehen wollen. Es ist zwar richtig, dass die weniger Nazis gewählt haben (wie heute z.B auch die AfD). Aber das zu einem großen Teil eher aus Glaubensräson heraus. Man hatte halt, um dem Herrn zu gefallen, das Zentrum zu wählen. Inhaltlich hat man da eher weniger gefremdelt. Schließlich gelangte Hitler ja auch erst über den Bückling von Papens, also des rechtskonservativen Teils des Zentrms, an die Macht.

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Beitrag von SarahF Sa Jun 20, 2015 12:03 pm

Und wie sieht es heute aus ? Die Wähler der AfD sind vor allem männlich,
bei Frauen kommt die Partei nicht so gut an. Und laut Wähleranalysen sind diese
Wähler auch überdurchschnittlich alt.
Alle klassischen rechtsextremen Parteien seit dem Erfolg der "Republikaner" in den späten 80er Jahren wurden bislang vom Mittelstand gemieden.Das kann natürlich auch daran liegen, daß der Mittestand in der alten Bundesrepublik sich nie wirklich bedroht gefühlt hat - so wie in der Weimarer Republik. Oder dass seine gesamte bisherige Existenz entwertet und auf den Kopf gestellt wurde, so wie nach 1989 / 90 im Osten.

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Beitrag von Atzec Mo Jun 22, 2015 7:20 pm

Ich denke, das derklassische Mittelstand heute so nicht mehr existiert. Nehme ich als beispiel die Innenstadt von Osnabrück mit ihrer Fußgängerzone und hren Einkaufsstr., dann sind die ganzen mittelständischen Einzelhändler vollständig aus dem Straßenbild verbannt worden. Stattdessen haben sich dort Fillialisten großer Konzerne breit gemacht und insgesamt die breite Angebotspallette kräftig ausgedünnt. :-/
Es hat ja auch Gründe, warum z.B. die FDP den parlamentarischen Abflug machen musste und die SPD drastisch geschrumpft ist. Beide Parteien leiden am stärksten unter dem Verlust ihrer angestammten Klientel aufgrund wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen. Der SPD brach die gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiterschaft weg und der FDP der klassische Mittelstand. Ferner nagen an der FDP-Wählerbasis auch die Grünen im ländlich-bäuerlichen Millieu.
Auch sonst snd millieuspezifische Mittelstandspositionen heute weniger stark gefestigt und weisen eine recht hohe Fluktuaton und keinerlei eindeutige parteipolitische Präferierung mehr auf.

Die AfD hat insofern keine besondere soziale Basis und fungiert lediglich als Staubsauger für zunehmend anachronistischer werdende konservatistische Lebensorientierungen und Haltungen. Auch hier wundert es nicht, dass das lediglich ein Haufen streitlustiger, verpeilter alter Säcke ist, attraktiv allenfalls für den opportunistischen Teil der stalinistischen Funktionselite.

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