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Die Ehre des Scharfrichters (Joel F. Harrington)

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Die Ehre des Scharfrichters (Joel F. Harrington) Empty Die Ehre des Scharfrichters (Joel F. Harrington)

Beitrag von Exmitglied-2 Sa Okt 31, 2015 5:10 pm

Ich habe mir vorgenommen, ab und an eine Rezension meiner Lektüren hier zu posten, bzw. solche, die dazu geeignet ist. Wenn jemand diese Bücher ebenfalls kennt, würde ich mich natürlich freuen, von euch zu hören.

Der Betrachtungsgegenstand:
Vom "Tagebuch" des Nürnberger Scharfrichters hat sicherlich jeder gehört, der sich einmal mit dem Rechtssystem, Hexenprozessen und dem Alltag in der Frühen Neuzeit auseinander gesetzt hat. Meister Frantz dokumentierte in seiner  länger vierzig Jahre währenden Amtszeit mehr als 300 von ihm vorgenommene Hinrichtungen und weitere mehr als 300 vollzogene Leibstrafen. In seinem „Tagebuch“ erfasste Namen, Delikt und vollzogene Strafe, an einigen Stellen gibt er sogar Hinweise über den Ablauf oder besondere Vorkommnisse wie das Verhalten der Angeklagten und, weil er in seinem Metier offenbar sehr talentiert war, selten auch eine erst im zweiten Anlauf geglückte Hinrichtung mit dem Schwert. Es ist ein einmaliges kulturhistorisches Selbstzeugnis. Das Original ist mittlerweile leider verloren, es existieren aber Abschriften aus dem 17. und 18. Jahrhundert mit mehr oder minder veränderten Textpassagen. Ohne das Original ist das natürlich nur schwer abzuschätzen. Leider sind uns so natürlich auch Aufschlüsse über die Haptik verwehrt. "Tagebuch" setze ich deswegen in Anführungszeichen, weil es sich zwar in der Tat um persönliche Aufzeichnungen handelt, die Eintragsform aber kaum dem entspricht, was man sich nach heutigen Begriffen darunter vorstellt (Philologenklumpfuß, man möge es mir nachsehen Wink ).


Joel F. Harrington, ein amerikanischer Geschichtswissenschaftler mit Schwerpunkt auf der Geschichte der Frühen Neuzeit im heutigen Deutschland, stieß im Verlauf seiner eigenen Forschung auf eine bis dahin unbekannte Abschrift, die, folgt man seinen Ausführungen, weniger durch den Abschreiber kontaminiert ist. Einige Textpassagen dieses Dokuments fehlten in den späteren Fassungen. Es besteht Grund zu Annahme, dass sie authentisch sind. Zufällig stieß er auch auf biographische Zeugnisse, die ihm erlaubten, das Werk kulturhistorisch neu zu situieren und die Biographie Meister Frantz‘ zu rekonstruieren. Harrington gibt in seiner Betrachtung Hintergründe zur Familiengeschichte, zu den biographischen Stationen Meister Frantz‘ und gibt dabei gleichzeitig Einblicke in das Leben und Denken in der Frühen Neuzeit. Das "Tagebuch" selbst gibt abgesehen von den genannten Schauplätzen, nur sehr wenig direkte Auskunft über den Schreiber selbst, es ist somit weniger autobiographisch als man meinen sollte. Aus rhetorischen Hinweisen auf Identität im Dokument gelingt es Harris dennoch eine glaubwürdige Interpretation zu ziehen, indem er den Text auf einer Metaebene betrachtet: Was formuliert Meister Frantz und vor allem wie und auch, was er eben nicht schreibt. "Die Ehre des Scharfrichters"  lautet der Titel und auch darum geht es: Um die kuriosen Umstände, die Meister Frantz' Vater, einem eigentlich ehrlichen und angesehenen Mann, unfreiwillig zum Henker machten, und wie Meister Frantz trotz seines wenig angesehenen, zwangsläufig ererbten Berufes versucht, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten ehrbar zu verhalten. Meister Frantz entspricht zum Beispiel nicht dem gängigen Charakter eines Henkers: Er hat laut eigenen Aussagen nie Alkohol konsumiert, war nicht in städtischen Gewaltausschreitungen verwickelt und war nicht nur im Vergleich zu seinem Vorgängern ein zuverlässiger Angestellter der Stadt. Harrington stellt anhand solcher und weiterer Beispiele deutlich heraus, wie gewöhnlich und ungewöhnlich dieser Mann für seine Zeit war und wie es zwar Normvorgaben sozialer und rechtlicher Art gab, die unser heutiges Bild der Zeit prägen, wie auf lokaler oder regionaler Verwaltungsebene davon auch abgewichen werden konnte. Das Buch ist sehr gut geschrieben (und übersetzt) und für den interessierten Laien auch leicht verständlich, da er sehr viele Hintergrundinformationen zu Politik, Recht, Verbrechertum und Religion der Zeit gibt. Harrington verweist in seinen Endnoten auf Quellen und Sekundärliteratur, sodass es auch für Studienzwecke in begrenztem Umfang durchaus geeignet ist. Ob jeder mit der Originalorthographie und –grammatik der Zitate zurechtkommt, kann ich nicht einschätzen, dazu lese ich solche Quellen selbst zu oft, ich fand sie für meine Lektüre aber bereichernd.
Einige Kritikpunkte habe ich allerdings, bzw. einen Hauptkritikpunkt, an dem sich die anderen anschließen. Ich kann das Buch nicht als faktuale oder fiktionale Erzählung einordnen. Es ist nicht wie ein Sachbuch geschrieben, aber es ist eben auch kein Prosatext, sondern irgendwo dazwischen. Gerade in Bezug auf die Anfangsjahre hatte ich das Gefühl, einen Roman zu lesen, weil es wie in der Belletristik eine Erzählerinstanz gibt. Es erschien inkonsistent (aber vielleicht ist auch das mein Philologenklumpfuß). Hinzu kommt, dass Harrington biographische bzw. kontextuelle Lücken durch andere nicht auf Meister Frantz bezogene Quellen auffüllt. Sie sind nicht immer gleich zu erkennen, manches erschließt sich nur über die Endnoten. Das ist angesichts des Zielpublikums weniger Kritik als ein Hinweis, bedacht mit den Angaben umzugehen.
Auch wenn ich in Detailfragen nicht mit Harrington übereinstimme, ist es ein überaus lesenswertes (und preislich erschwingliches) Buch.

Exmitglied-2

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