Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
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Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Ich bekam die Mitteilung, das karstde an mich mehrere Fragen gestellt hat. In den nächsten Monaten kann ich mich nicht um das Forum kümmern und deshalb auch nichts dazu sagen. Zu einer Frage hatte ich allerdings vor einigen Monaten in einem anderen Forum einen Beitrag veröffentlicht und den gebe ich jetzt kommentarlos wieder.
Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
In den Schriften von Engels findet sich ein seltsames theoretisches Konzept, die Doktrin der „geschichtslosen Völker“. Hier findet sich kein Pendant bei Karl Marx, anscheinend ist dies seine ureigene Kreation.
In seiner Analyse des Scheiterns der demokratischen Revolution in Mitteleuropa 1848/49 schrieb Engels diese Niederlage der konterrevolutionären Rolle zu, die die slawischen Völker (Tschechen, Slowaken, Mähren, Kroaten, Serben, Slowenen, Dalmatier etc.) gespielt hätten, die en masse in die kaiserlich-ungarisch-österreichisch und russische Armee eingetreten und von den Mächten der Reaktion dazu benutzt worden waren, die liberalen Revolutionen in Ungarn, Polen, Österreich und Italien zu zerschlagen.
Statt die Klassenursachen zu erforschen, versucht er dieses Problem mit einer metaphysischen Ideologie zu erklären – der Theorie der quasi von Natur aus konterrevolutionären „geschichtslosen Völker“, einer Kategorie, der er kurzerhand die Südslawen, Bretonen, Schotten und Basken zuschlug.
„Es ist kein Land in Europa, das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewohnerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist.“
Engels unterscheidet nun zwischen revolutionären und konterrevolutionären Völkern:
„Resumieren wir:
In Österreich, abgesehen von Polen und Italien, haben die Deutschen und die Magyaren im Jahre 1848, wie seit tausend Jahren schon, die geschichtliche Initiative übernommen. Sie vertreten die Revolution.
Die Südslawen, seit tausend Jahren von Deutschen und Magyaren ins Schlepptau genommen, haben sich 1848 nur darum zur Herstellung ihrer nationalen Selbständigkeit erhoben, um dadurch zugleich die deutsch-magyarische Revolution zu unterdrücken. Sie vertreten die Kontrerevolution. Ihnen haben sich zwei ebenfalls längst verkommene Nationen ohne alle geschichtliche Aktionskraft angeschlossen: die Sachsen und Rumänen Siebenbürgens.“
Und er prophezeit:
„Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“
Alle Zitate aus: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Engels, Der magyarische Kampf, Band 6, S. 165-173
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959
Diese merkwürdige Theorie wird von ihm später in der Auseinandersetzung mit dem Panslawismus weiter geführt.
„Wir wiederholen es: Außer den Polen, den Russen und höchstens den Slawen der Türkei hat kein slawisches Volk eine Zukunft, aus dem einfachen Grunde, weil allen übrigen Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen.
Völker, die nie eine eigene Geschichte gehabt haben, die von dem Augenblick an, wo sie die erste, roheste Zivilisationsstufe ersteigen, schon unter fremde Botmäßigkeit kommen oder die erst durch ein fremdes Joch in die erste Stufe der Zivilisation hineingezwungen werden, haben keine Lebensfähigkeit, werden nie zu irgendeiner Selbständigkeit kommen können.
Und das ist das Geschick der östreichischen Slawen gewesen. Die Tschechen, zu denen wir selbst die Mähren und Slowaken rechnen wollen, obwohl sie sprachlich und geschichtlich verschieden sind, hatten nie eine Geschichte. Seit Karl dem Großen ist Böhmen an Deutschland gekettet. Einen Augenblick emanzipiert sich die tschechische Nation und bildet das großmährische Reich, um sofort wieder unterjocht und während fünfhundert Jahren als Spielball zwischen Deutschland, Ungarn und Polen hin- und hergeworfen zu werden. Dann kommt Böhmen und Mähren definitiv zu Deutschland, und die slowakischen Gegenden bleiben bei Ungarn. Und diese geschichtlich gar nicht existierende "Nation" macht Ansprüche auf Unabhängigkeit?
Ebenso die eigentlich sogenannten Südslawen. Wo ist die Geschichte der illyrischen Slowenen, der Dalmatiner, Kroaten und Schokazen? Seit dem 11. Jahrhundert haben sie den letzten Schein politischer Unabhängigkeit verloren und teils unter deutscher, teils unter venetianischer, teils unter magyarischer Herrschaft gestanden. Und aus diesem zerrissenen Fetzen will man eine kräftige, unabhängige, lebensfähige Nation zusammenstümpern?“
Die Slawen waren seiner Meinung nach nie revolutionär gewesen:
„Hätten die Slawen zu irgendeiner Epoche innerhalb ihrer Unterdrückung eine neue revolutionäre Geschichte begonnen, so bewiesen sie schon dadurch ihre Lebensfähigkeit. Die Revolution hatte von dem Augenblick an ein Interesse an ihrer Befreiung, und das besondre Interesse der Deutschen und Magyaren verschwand vor dem größeren Interesse der europäischen Revolution.
Aber das war gerade nie der Fall. Die Slawen - wir erinnern nochmals daran, daß wir hier stets die Polen ausschließen - waren immer gerade die Hauptwerkzeuge der Kontrerevolutionäre. Unterdrückt zu Hause, waren sie in der Fremde die Unterdrücker aller revolutionären Nationen, soweit der slawische Einfluß reichte.“
Alle Zitate aus: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Engels, Der demokratische Panslawismus, Band 6, S. 270-286
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959
In seinen weiteren Artikeln zur Polenfrage 1866 unterscheidet er zwischen den großen definierten historischen Nationen in Europa (Italien, Polen, Ungarn, Deutschland) und den „geschichtslosen Völkern“, die von diesen aufgesogen werden sollten (siehe hierzu das Werk von Roman Rosdolsky, Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker).
Dieses merkwürdige Konstrukt der konterrevolutionären geschichtslosen Völker hat überhaupt keine Basis im historischen Materialismus und steht den Ideen von Bismarck näher, der auch glaubte, die großen Nationen hätten das Recht, kleinere Völker zu assimilieren als den Vorstellungen von Marx, der in Klassenkämpfen dachte, der fortschrittliche und reaktionäre Klassen zu erkennen glaubte, aber nicht fortschrittliche und reaktionäre Völker.
Man könnte Engels höchstens zu Gute halten, das es sich hier um Briefe handelte, nicht um wissenschaftliche Untersuchungen. Ob er in späteren Jahren anders dachte, weiß ich nicht. Meines Wissens hat er diese seltsame Theorie nie widerrufen.
Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
In den Schriften von Engels findet sich ein seltsames theoretisches Konzept, die Doktrin der „geschichtslosen Völker“. Hier findet sich kein Pendant bei Karl Marx, anscheinend ist dies seine ureigene Kreation.
In seiner Analyse des Scheiterns der demokratischen Revolution in Mitteleuropa 1848/49 schrieb Engels diese Niederlage der konterrevolutionären Rolle zu, die die slawischen Völker (Tschechen, Slowaken, Mähren, Kroaten, Serben, Slowenen, Dalmatier etc.) gespielt hätten, die en masse in die kaiserlich-ungarisch-österreichisch und russische Armee eingetreten und von den Mächten der Reaktion dazu benutzt worden waren, die liberalen Revolutionen in Ungarn, Polen, Österreich und Italien zu zerschlagen.
Statt die Klassenursachen zu erforschen, versucht er dieses Problem mit einer metaphysischen Ideologie zu erklären – der Theorie der quasi von Natur aus konterrevolutionären „geschichtslosen Völker“, einer Kategorie, der er kurzerhand die Südslawen, Bretonen, Schotten und Basken zuschlug.
„Es ist kein Land in Europa, das nicht in irgendeinem Winkel eine oder mehrere Völkerruinen besitzt, Überbleibsel einer früheren Bewohnerschaft, zurückgedrängt und unterjocht von der Nation, welche später Trägerin der geschichtlichen Entwicklung wurde. Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist.“
Engels unterscheidet nun zwischen revolutionären und konterrevolutionären Völkern:
„Resumieren wir:
In Österreich, abgesehen von Polen und Italien, haben die Deutschen und die Magyaren im Jahre 1848, wie seit tausend Jahren schon, die geschichtliche Initiative übernommen. Sie vertreten die Revolution.
Die Südslawen, seit tausend Jahren von Deutschen und Magyaren ins Schlepptau genommen, haben sich 1848 nur darum zur Herstellung ihrer nationalen Selbständigkeit erhoben, um dadurch zugleich die deutsch-magyarische Revolution zu unterdrücken. Sie vertreten die Kontrerevolution. Ihnen haben sich zwei ebenfalls längst verkommene Nationen ohne alle geschichtliche Aktionskraft angeschlossen: die Sachsen und Rumänen Siebenbürgens.“
Und er prophezeit:
„Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt.“
Alle Zitate aus: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Engels, Der magyarische Kampf, Band 6, S. 165-173
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959
Diese merkwürdige Theorie wird von ihm später in der Auseinandersetzung mit dem Panslawismus weiter geführt.
„Wir wiederholen es: Außer den Polen, den Russen und höchstens den Slawen der Türkei hat kein slawisches Volk eine Zukunft, aus dem einfachen Grunde, weil allen übrigen Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen.
Völker, die nie eine eigene Geschichte gehabt haben, die von dem Augenblick an, wo sie die erste, roheste Zivilisationsstufe ersteigen, schon unter fremde Botmäßigkeit kommen oder die erst durch ein fremdes Joch in die erste Stufe der Zivilisation hineingezwungen werden, haben keine Lebensfähigkeit, werden nie zu irgendeiner Selbständigkeit kommen können.
Und das ist das Geschick der östreichischen Slawen gewesen. Die Tschechen, zu denen wir selbst die Mähren und Slowaken rechnen wollen, obwohl sie sprachlich und geschichtlich verschieden sind, hatten nie eine Geschichte. Seit Karl dem Großen ist Böhmen an Deutschland gekettet. Einen Augenblick emanzipiert sich die tschechische Nation und bildet das großmährische Reich, um sofort wieder unterjocht und während fünfhundert Jahren als Spielball zwischen Deutschland, Ungarn und Polen hin- und hergeworfen zu werden. Dann kommt Böhmen und Mähren definitiv zu Deutschland, und die slowakischen Gegenden bleiben bei Ungarn. Und diese geschichtlich gar nicht existierende "Nation" macht Ansprüche auf Unabhängigkeit?
Ebenso die eigentlich sogenannten Südslawen. Wo ist die Geschichte der illyrischen Slowenen, der Dalmatiner, Kroaten und Schokazen? Seit dem 11. Jahrhundert haben sie den letzten Schein politischer Unabhängigkeit verloren und teils unter deutscher, teils unter venetianischer, teils unter magyarischer Herrschaft gestanden. Und aus diesem zerrissenen Fetzen will man eine kräftige, unabhängige, lebensfähige Nation zusammenstümpern?“
Die Slawen waren seiner Meinung nach nie revolutionär gewesen:
„Hätten die Slawen zu irgendeiner Epoche innerhalb ihrer Unterdrückung eine neue revolutionäre Geschichte begonnen, so bewiesen sie schon dadurch ihre Lebensfähigkeit. Die Revolution hatte von dem Augenblick an ein Interesse an ihrer Befreiung, und das besondre Interesse der Deutschen und Magyaren verschwand vor dem größeren Interesse der europäischen Revolution.
Aber das war gerade nie der Fall. Die Slawen - wir erinnern nochmals daran, daß wir hier stets die Polen ausschließen - waren immer gerade die Hauptwerkzeuge der Kontrerevolutionäre. Unterdrückt zu Hause, waren sie in der Fremde die Unterdrücker aller revolutionären Nationen, soweit der slawische Einfluß reichte.“
Alle Zitate aus: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Engels, Der demokratische Panslawismus, Band 6, S. 270-286
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959
In seinen weiteren Artikeln zur Polenfrage 1866 unterscheidet er zwischen den großen definierten historischen Nationen in Europa (Italien, Polen, Ungarn, Deutschland) und den „geschichtslosen Völkern“, die von diesen aufgesogen werden sollten (siehe hierzu das Werk von Roman Rosdolsky, Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker).
Dieses merkwürdige Konstrukt der konterrevolutionären geschichtslosen Völker hat überhaupt keine Basis im historischen Materialismus und steht den Ideen von Bismarck näher, der auch glaubte, die großen Nationen hätten das Recht, kleinere Völker zu assimilieren als den Vorstellungen von Marx, der in Klassenkämpfen dachte, der fortschrittliche und reaktionäre Klassen zu erkennen glaubte, aber nicht fortschrittliche und reaktionäre Völker.
Man könnte Engels höchstens zu Gute halten, das es sich hier um Briefe handelte, nicht um wissenschaftliche Untersuchungen. Ob er in späteren Jahren anders dachte, weiß ich nicht. Meines Wissens hat er diese seltsame Theorie nie widerrufen.
Wallenstein- Gründungsmitglied
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Re: Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Bei den historischen und nicht historischen bzw. geschichtslosen Völkern handelt es sich um eine frühe marxsche These, die ihre Wurzeln in der Hegelschen Rechts- und Geschichtsphilosophie hat. Nach Hegel gibt es Kulturen, die sich staatlich organisiert haben und eben welche, die das (noch) nicht getan haben. Weil aber die Geschichte erst mit dem Staat und seinen Gesetzen beginnt, gibt es geschichtliche Völker und geschichtslose Völker. Dabei gibt es dann Völker, die Träger der Entwicklung des „Weltgeistes“ sind und ein absolutes Recht gegenüber den Völkern haben, die nicht Träger dieser Entwicklung sind.
Bei Marx und Engels ist nicht nur die staatliche Organisation das Kriterium, sondern die Rolle der Völker im Prozess der bürgerlichen und proletarischen Revolution. Hier taucht dann die Unterscheidung in Nationen und Nationalitäten auf.
Kleine Völker, die aufgrund ihrer Entwicklung keine Rolle im Prozess der bürgerlichen und proletarischen Revolutionen spielen, gehen als Nationalitäten in großen zentralisierten Nationen auf, die in diesem revolutionären Prozess eine positive Rolle inne haben. Vor dem Hintergrund der gescheiterten Revolution 1848 war diese These zunächst eine Polemik gegen die südslawischen Völker in der k. u. k. Monarchie, die als Feinde der deutschen Revolution und als Werkzeug des russischen Panslawismus gesehen wurden. Diese Nationalitäten, die durch jahrhundertelange Unterdrückung ihre historische Lebenskraft verloren haben und im revolutionären Weltprozess als Nationalität untergehen werden, sind allenfalls geeignet, die Träger der Konterrevolution zu sein. Sie dürften sich allenfalls als ethnografische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.
Otto Bauer, österreichischer Marxist – Vertreter des „Austromarxismus“, setzte dem 1907 die These vom Erwachen der geschichtslosen Nationen entgegen. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bauer/1907/nationalitaet/17-erwachen.htm) Demnach könne die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus auch rückständige kleine Völker historisch erneut aktivieren und zu Trägern revolutionärer Umwälzungen machen.
Bei Lenin fand das seinen Ausdruck in der Forderung eines „unbedingten Rechts auf politische Selbstbestimmung für ausnahmslos alle Nationalitäten“, womit der Begriff der geschichtslosen Völker in der marxistischen Diskussion kaum noch eine Rolle spielte. Darauf gründete sich später auch die sowjetische Nationalitätenpolitik. Allerdings blieb in der (stalinistischen) Praxis die Unterscheidung in revolutionäre und weniger revolutionäre Nationalitäten.
(Nachzulesen im Historisch kritischen Wörterbuch des Marxismus, 5, 2001, Artikel von Thomas Scheffler)
Bei Marx und Engels ist nicht nur die staatliche Organisation das Kriterium, sondern die Rolle der Völker im Prozess der bürgerlichen und proletarischen Revolution. Hier taucht dann die Unterscheidung in Nationen und Nationalitäten auf.
Kleine Völker, die aufgrund ihrer Entwicklung keine Rolle im Prozess der bürgerlichen und proletarischen Revolutionen spielen, gehen als Nationalitäten in großen zentralisierten Nationen auf, die in diesem revolutionären Prozess eine positive Rolle inne haben. Vor dem Hintergrund der gescheiterten Revolution 1848 war diese These zunächst eine Polemik gegen die südslawischen Völker in der k. u. k. Monarchie, die als Feinde der deutschen Revolution und als Werkzeug des russischen Panslawismus gesehen wurden. Diese Nationalitäten, die durch jahrhundertelange Unterdrückung ihre historische Lebenskraft verloren haben und im revolutionären Weltprozess als Nationalität untergehen werden, sind allenfalls geeignet, die Träger der Konterrevolution zu sein. Sie dürften sich allenfalls als ethnografische Denkmäler ohne politische Bedeutung erhalten.
Otto Bauer, österreichischer Marxist – Vertreter des „Austromarxismus“, setzte dem 1907 die These vom Erwachen der geschichtslosen Nationen entgegen. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/bauer/1907/nationalitaet/17-erwachen.htm) Demnach könne die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus auch rückständige kleine Völker historisch erneut aktivieren und zu Trägern revolutionärer Umwälzungen machen.
Bei Lenin fand das seinen Ausdruck in der Forderung eines „unbedingten Rechts auf politische Selbstbestimmung für ausnahmslos alle Nationalitäten“, womit der Begriff der geschichtslosen Völker in der marxistischen Diskussion kaum noch eine Rolle spielte. Darauf gründete sich später auch die sowjetische Nationalitätenpolitik. Allerdings blieb in der (stalinistischen) Praxis die Unterscheidung in revolutionäre und weniger revolutionäre Nationalitäten.
(Nachzulesen im Historisch kritischen Wörterbuch des Marxismus, 5, 2001, Artikel von Thomas Scheffler)
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Re: Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Meines Wissens nach spielt die merkwürdige Theorie von Engels später auch keine Rolle mehr in der Arbeiterbewegung.
Im Stalinismus feiert sie allerdings eine traurige Wiederaufstehung, weil Stalin ganze Völker für konterrevolutionär erkärt und sie deportierten läßt. (Obwohl er sich nicht auf Engels beruft.)
Im Stalinismus feiert sie allerdings eine traurige Wiederaufstehung, weil Stalin ganze Völker für konterrevolutionär erkärt und sie deportierten läßt. (Obwohl er sich nicht auf Engels beruft.)
Wallenstein- Gründungsmitglied
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Re: Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Wallenstein schrieb:
Und das ist das Geschick der östreichischen Slawen gewesen. Die Tschechen, zu denen wir selbst die Mähren und Slowaken rechnen wollen, obwohl sie sprachlich und geschichtlich verschieden sind, hatten nie eine Geschichte. Seit Karl dem Großen ist Böhmen an Deutschland gekettet. Einen Augenblick emanzipiert sich die tschechische Nation und bildet das großmährische Reich, um sofort wieder unterjocht und während fünfhundert Jahren als Spielball zwischen Deutschland, Ungarn und Polen hin- und hergeworfen zu werden. Dann kommt Böhmen und Mähren definitiv zu Deutschland, und die slowakischen Gegenden bleiben bei Ungarn. Und diese geschichtlich gar nicht existierende "Nation" macht Ansprüche auf Unabhängigkeit?
Sowohl als Tschechen wie auch als Schweizer empört mich natürlich derart arrogante Interpretation der tschechischen Geschichte. Ich sehe darin irgendwo das Herrenmenschendenken oder den Imperialismus mit umgekehrten Vorzeichen. Dazu gleich meine Frage: Was dachte eigentlich Engels zu den Schweizern? Oder waren die nicht einmal seine teuren Gedanken wert?
Die tschechische Reformation war bahnbrechend, ihrer Zeit weit voraus. Die kralitzer Bibel, die ich schon mal angesichts eines Deiner Threads schon einlassen wollte (werde das nachholen), war in ihrer Interpretation ebenfalls ihrer Zeit weit voraus.
Frantíšek Palacký, Tscheche, wie auch Österreicher und Europäer, war seiner Zeit auch voraus, hätten die Deutschen Nationalisten auf ihn gehört wäre manches anders gekommen.
Die Deutschen in Böhmen und Mähren wie auch anderswo hatten durchaus auch diese Gedanken und so mancher von ihnen hatte diese Gedanken lange danach.
Aber naja. Halt nicht das einzige, wo Engels ein wenig daneben lag.
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Re: Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Ich empfehle seinen Artikel: Der Schweizer Bürgerkrieg
http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_391.htm
http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_391.htm
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Re: Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Wallenstein schrieb:Ich empfehle seinen Artikel: Der Schweizer Bürgerkrieg
http://www.mlwerke.de/me/me04/me04_391.htm
Danke Wallenstein, sehr interessanter Aufsatz von Engels zum Sonderbundskrieg. Ich muss einräumen, da eine Bildungslücke zu haben, trotz sieben gymnasialen Jahren Geschichtsunterricht in der Schweiz. Dort reichte die Zeit nicht dazu, dieses doch recht bedeutende Ereignis Schweizer Geschichte zu behandeln- uber Bismarck haben wir da mehr gelernt. In meiner Armeezeit kann ich mich erinnern, als wir mal ein Bataillionsantreten vor dem Klostern in Einsiedeln hatten und unser kommandierender Major den Abt von dort positiv erwähnt hat, er habe den Sonderbundseinheiten geraten, den Widerstand gegen die eidgenössischen Truppen einzustellen. Das wars dann auch schon. Aber ich kanns ja nachholen.
Der Duktus von Engels erinnert mich ein wenig an den SPIEGEL, wenn er über die Schweiz schrieb - ein gewisses Mass an Überheblichkeit eines Angehörigen des "grossen Kantons" (Deutschland) ist schon zu spüren.
Aber er hat schon nicht nur unrecht. Die Schweiz mochte schon in vielen Bereichen rückständig gewesen sein, konservativ, das ist sie bis heute. Und trotzdem, er hätte wohl nicht gedacht, das sich aus dieser Hinterwäldler-Stammesdemokratie das reichste Land Europas entwickeln könnte, das wohl als einziges Land eine Direktdemokratie pflegt und eine sehr Minderheiten gegenüber freundliche Demokratie pflegt mit einem hohen Mass an Föderalismus. Aber ja, der Kommunismus hatte nie eine grosse Chance, auch die Sozialdemokratie war hier schwächer als anderswo.
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Marek1964- Admin
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Re: Friedrich Engels und die „geschichtslosen Völker“
Ich bin kein guter Kenner der Schweizer Geschichte, aber der Sonderbundkrieg von 1847, den Engels als junger Mann verfolgte, war offensichtlich, das habe ich in dem auf der Leipziger Messe prämierten Buch von Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, nachgelesen, ein für die weitere Entwicklung der Schweiz zentrales Ereignis.
Der Aufstand von dem Sonderbund, bestehend aus den sieben katholischen Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis, die Revolte der, laut Engels, primitiven Hirtenstämme und Jesuiten, brach nach wenigen Wochen zusammen und anschließend setzten sich die Liberalen aus den Städten und den protestantischen Kantonen durch.
Der bisherige Staatenbund wurde in einen Bundesstaat mit einer handlungsfähigen Zentralmacht umgewandelt. Eine neue Verfassung wurde September 1848 von der Bevölkerung mit großer Mehrheit angenommen. An die Stelle der Tagsatzung trat die Bundesversammlung aus zwei Kammern: dem Ständerat als Vertreter der Kantone und dem Nationalrat als Vertretung der der Bevölkerung insgesamt und alle männlichen Schweizer ab 20 Jahren wurden wahlberechtigt. Das neue System vereinigte plebiszitäre Elemente der „primitiven Hirtendemokratie“ mit Elementen des modernen Repräsentativsystems.
Die Großmächte verurteilten diese Entwicklung, waren aber durch die Revolution von 1848 handlungsunfähig. Der Schweiz blieb deshalb eine Invasion erspart.
Der Aufstand von dem Sonderbund, bestehend aus den sieben katholischen Kantonen Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg und Wallis, die Revolte der, laut Engels, primitiven Hirtenstämme und Jesuiten, brach nach wenigen Wochen zusammen und anschließend setzten sich die Liberalen aus den Städten und den protestantischen Kantonen durch.
Der bisherige Staatenbund wurde in einen Bundesstaat mit einer handlungsfähigen Zentralmacht umgewandelt. Eine neue Verfassung wurde September 1848 von der Bevölkerung mit großer Mehrheit angenommen. An die Stelle der Tagsatzung trat die Bundesversammlung aus zwei Kammern: dem Ständerat als Vertreter der Kantone und dem Nationalrat als Vertretung der der Bevölkerung insgesamt und alle männlichen Schweizer ab 20 Jahren wurden wahlberechtigt. Das neue System vereinigte plebiszitäre Elemente der „primitiven Hirtendemokratie“ mit Elementen des modernen Repräsentativsystems.
Die Großmächte verurteilten diese Entwicklung, waren aber durch die Revolution von 1848 handlungsunfähig. Der Schweiz blieb deshalb eine Invasion erspart.
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