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Jean Rudolf von Salis - Die Stimme aus dem Radio Beromünster

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Beitrag von Orianne Fr Jan 30, 2015 10:13 am

Jean Rudolf von Salis - Die Stimme aus dem Radio Beromünster
Beitragvon Orianne » 29.09.2014, 08:34

Jean Rudolf (oder Rodolphe) von Salis (1901–1996) hat in der Schweiz Heldenstatus: Als Autor der Radiosendung «Weltchronik» kommentierte er ab 1940 den Verlauf des Zweiten Weltkriegs und ging als mediales Bollwerk gegen Hitler-Deutschland ins kollektive Gedächtnis ein. Der 73-jährige Historiker Urs Bitterli erinnert sich lebhaft, wie er als Bub jeden Freitagabend zwischen 19.10 und 19.25 Uhr mit dem Vater vor dem «unförmigen Radioapparat mit den hölzernen Zierleisten» sass. Gebannt habe er zugehört, wie der Geschichtsprofessor von der ETH Zürich über die Ereignisse in Stalingrad oder der Normandie berichtete. Von Salis selbst hat später seine Arbeit für Radio Beromünster «als Partisanentätigkeit in den Ätherwellen» bezeichnet.

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Bild aus meiner Sammlung

Urs Bitterli, heute selbst emeritierter Professor für Geschichte der Universität Zürich, zieht diese Sicht in Zweifel. Für die Biografie «Jean Rudolf von Salis: Historiker in bewegter Zeit» hat er die «Weltchronik»-Manuskripte wie auch von Salis' Zeitungskommentare erneut gelesen und gelangte zu einer wenig schmeichelhaften Einschätzung: «Die heutige Lektüre lässt erkennen, dass eine weit verbreitete, durch ständige Wiederholung scheinbar erhärtete kollektive Erinnerung, wonach die Kommentare von Jean Rudolf von Salis einen beherzten Akt des Widerstands dargestellt hätten, nicht zutreffend ist.»

Nicht nur als Träger öffentlicher Chargen - von 1952 bis 1964 war er Präsident der Pro Helvetia - blieb Jean Rudolf von Salis in der Öffentlichkeit präsent, sondern auch als aufmerksamer Beobachter, Analytiker und Kommentator des Zeitgeschehens. Noch als über 90-Jähriger verfasste er Leitartikel zu zeitpolitischen Themen und pflegte daneben das Schreiben als «Müssiggänger», indem er seinem literarischen Wunschtraum in Tagebuchnotizen, die 1983 und 1987 publiziert wurden, die lange Leine liess. Die Rückbindung an die Faktizität gänzlich zu kappen und sich dem Fiktionalen zu überlassen - sein Schriftsteller- Freund Friedrich Dürrenmatt hatte ihn wiederholt dazu aufgefordert -, schaffte er jedoch nach dem lebenslangen, möglichst verständlichen Nachzeichnen der realen Begebenheiten nicht mehr. Am «quatorze juillet», dem 14. Juli 1996, starb er, 95-jährig.

Sucht man nach den Gründen für die herausragenden Konturen von Jean Rudolf von Salis' Biographie, stösst man neben der Zufälligkeit des zeitgeschichtlichen Kontexts vor allem auf vermeintlich marginale Eigenschaften: Das Vertrauen des Historikers und Publizisten in die Kausalitäten der Weltgeschehnisse und in die Möglichkeit ihrer Darstellung war ungebrochen; er wagte aus grosser Distanz die Analyse und scheute sich nicht vor vereinfachenden Synthesen. Vor allem aber war er ein begabter Stilist, der nicht nur für seine Weltsichten eine Sprache zu finden wusste, die einem breiten Publikum verständlich war, sondern es gelang ihm auch immer wieder, diese Sprache so zu modulieren, dass sie bei verschiedenen Gegenübern ihre Wirkung erzielte.

Sein stilistisches Können im Umgang mit historischen Quellen zeigt nicht zuletzt sein autobiographischer Bericht «Grenzüberschreitungen». Für die Niederschrift der zwei Bände hatte Salis sein äusserst umfangreiches Archiv aufgearbeitet, hatte seine persönlichen Dokumente, die ausgedehnte Korrespondenz mit über 2000 Adressaten, Zeitungsartikel, Akten und Notizen gesichtet. Aus der Materialmenge kreierte er immer wieder geradezu literarische Sequenzen von Erlebtem und Erinnertem, indem er, auswählend und darstellend, Akzentuierungen und Phrasierungen sehr bewusst gestaltete.


«Nach dem Krieg erwachte ich als berühmter Mann», pointierte Jean Rudolf von Salis 1983 in den «Notizen eines Müssiggängers» die Geschichte seines Erfolgs, der in der Folge seiner radiophonen «Weltchronik» geradezu über ihn hereinbrach. Wie verhielt es sich hingegen mit möglichen Ursachen und Nebenwirkungen? Die nachgelassenen Dokumente im Schweizerischen Literaturarchiv berichten vom Werdegang eines zeitgemässen Stilisten mit grossem Sensorium für die Bedürfnisse seiner Gegenwart und von der Eigendynamik einer Rezeptionsgeschichte, bei der wiederum die Bedürfnisse der Zeit als Katalysator wirkten: Als Salis seine Professur in Zürich antrat, zeichnete sich die Gefahr eines neuen Krieges in Europa bereits deutlich ab. Die Entscheidung für eine Rückkehr in die Schweiz war auch eine Entscheidung für die eigene Sicherheit.

Mit Zunahme der Spannungen im Ausland wuchsen auch in der Schweiz die Verunsicherung und Unruhe, gespiegelt und mitunter gefördert von der inländischen Presse. Nach zweijähriger «Abstinenz» vom Journalismus ergriff Salis 1938 wieder in verschiedenen Schweizer Zeitungen das Wort - zum Zeitpunkt der innen- und aussenpolitischen Zerreissprobe plädierte er für Vernunft, emotionale Distanz, «Stillesitzen» und für die schweizerische Neutralität. Je stärker er die Bedrohungslage der Schweiz empfand, umso mehr disziplinierte er seinen Schreibstil gegenüber expliziter oder impliziter «Stimmungsmache» gegen das nationalsozialistische Deutschland. In seinen publizierten Schriften mässigte sich Jean Rudolf von Salis zu einem besonnenen und zuverlässigen Vertreter der «geistigen Landesverteidigung».

Insbesondere von Seiten der Landesregierung wurde dies mit Anerkennung konstatiert; in der Folge fehlte es ebenso wenig an persönlich ausgesprochenem Lob wie an personeller Vernetzung zwischen Salis und verschiedenen Regierungsvertretern. Als 1940 Bundesrat Pilet-Golaz im persönlichen Gespräch Salis mit der heiklen Aufgabe der aussenpolitischen Berichterstattung betraute, war dieser Schritt Ausdruck des Vertrauens in Salis' journalistisch bewiesene Staatsräson.

J. R. von Salis nahm seine Aufgabe als «Weltchronist» in der Folge auch in diesem Sinne zuverlässig wahr: Seine freitags gesendeten Berichte waren in ruhigem, verständlich erläuterndem, sachlichem Ton verfasst. Dass sich in den erhaltenen Manuskriptseiten kaum Spuren äusserer Zensureingriffe finden, überrascht nicht. Mit der Formel «Zensur verfeinert den Stil» hat Salis später das Funktionsprinzip der Selbstzensur elegant auf den Punkt gebracht.

In der Schweizer Öffentlichkeit blieb es während der Kriegsjahre, so zeigen es die gesammelten Zeitungsartikel und Briefe im Nachlass, von wenigen, vor allem krittelnden Ausnahmen abgesehen, still um die «Weltchronik». Erst mit der fortschreitenden Befreiung der okkupierten Nachbarländer drang ab Ende 1944 die Kunde vom Erfolg der «Weltchronik» und von dem hohen Ansehen von J. R. von Salis im Ausland über die Schweizer Grenzen. Immer ausführlicher berichtete die Schweizer Presse von der Bedeutung seiner Berichterstattung in den von Nazideutschland besetzten Gebieten, wo die «Weltchronik», verbotenerweise abgehört, den Zuhörern Hoffnung auf ein «Danach» gegeben hatte. Emphatische Prädikate wie «Freitags-Trost» oder «Herrgott Frankreichs» wurden ins Inland weitergereicht - hier wurde Salis zur «Stimme der Nation».

Untersucht man die Zeitungsartikel, die zum Kriegsende von Salis' Erfolg und Anerkennung im Ausland berichteten, und bedenkt dabei die aussenpolitische Bedrängnis, in die gleichzeitig die Schweiz wegen ihrer Handelsbeziehungen mit Deutschland geraten war, so überrascht die plötzlich entdeckte begeisterte öffentliche Rezeption wenig. Während die Alliierten der Schweizer Neutralität Schlagseite vorwarfen, wurde der «Weltchronist» zum Synonym für die schweizerische Integrität.

«Für die Fama ihres Verfassers wurden seine Radiokommentare der Kriegszeit auf Jahrzehnte hinaus schicksalhaft entscheidend», hielt Salis in seinem Lebensbericht fest - und liess als präziser Stilist einen subtilen Verweis auf jene Eigendynamik in der Aussage mitschwingen.


Hatte J. R. von Salis in Einschätzung der empfundenen und realen Gefahr während des Zweiten Weltkriegs den Rückzug ins Schweizerische befürwortet und gefördert, so wollte er nach 1945 den Ausbruch aus dem Réduit vorantreiben. Doch gerade seinem Engagement für eine «europäische» Schweiz, seinem wiederholten Plädoyer für Offenheit, Austausch und Zusammenarbeit war lebenslänglich nur bedingt Erfolg beschieden. Die einst sichere Schweiz wurde Salis in den folgenden Jahrzehnten mehr und mehr zur «schwierigen Schweiz» - so betitelte er 1968 seine Aufsatz- und Artikelsammlung, in der er sich mit jener sperrig gewordenen Heimat auseinandersetzte. Er, der sich durch seine weitreichenden familiären Wurzeln immer schon als Europäer gefühlt hatte, erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg, wie sein Wunschbild einer neuen, europaorientierten Nation immer wieder an ideellen Relikten der Vergangenheit scheiterte. «Wir haben - ich bin selber mitschuldig - im Zweiten Weltkrieg aus der Neutralität eine Ideologie gemacht», räumte Salis als Neunzigjähriger in einem Interview ein. Mit der Ablehnung des EWR-Beitritts erlebte sein Einstehen für die Integration der Schweiz in Europa 1992 eine letzte Niederlage.

Bezeichnenderweise konnte Salis zeitlebens keinen konkreten Standort im parteipolitischen Geflecht einnehmen. Die Selbstbezeichnung als «Grenzüberschreiter» war positive Wertung und kritische Hinterfragung zugleich. Dies wird in einer undatierten Notiz im Nachlass glossiert:

Aber wo stand ich politisch? Früh schon beeindruckte mich die Erkenntnis, dass ich zu keiner Partei mich vorbehaltlos bekennen, keiner politischen Doktrin mich mit voller Überzeugung verschreiben konnte. War das die Haltung des Perplexen vor einer Gesellschaft mit ihren Widersprüchen, vor einer Politik mit ihren Zwängen? Konnte ich . . . von mir sagen, ich sei ein sozialdemokratisch Konservativer? Diese Geisteshaltung bejaht die Tradition, indem sie sie erschüttert, sie ist progressiv, ohne untreu zu sein, sie ist existenziell richtig und politisch machtlos.

Vielleicht war tatsächlich über weite Strecken die Machtlosigkeit der Preis für die Singularität desjenigen, der im «Dazwischen» lebte und seinen Standpunkt immer als Einzelner wählte. Aber den Alleingang zu wagen, bedeutete im Falle Salis' nicht den freiwilligen Verzicht auf Wirkung. Vielmehr war es Ausdruck davon, dass er sich sich und seiner eigenen Rationalität mehr verpflichtet fühlte als einer Interessengemeinschaft. J. R. von Salis, so zeigt seine Biographie, war kein blinder Idealist, sondern mass als wachsamer Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts die politische Realität stets genau auf die Spannbreite der zeitgegebenen Möglichkeiten ab. Die Untersuchung der nachgelassenen Lebensdokumente vermittelt in diesem Sinne überraschende Einsichten und liefert fast idealtypische Beispiele dafür, welche gleichzeitig die Eigendynamik der Wirkungsgeschichte offenlegen.

Wie wäre es sonst zu erklären, dass in den vergangenen Jahren immer wieder Jean Rudolf von Salis als dezidierteste Stimme gegen den übersteigerten Antikommunismus im Kalten Krieg zitiert wurde? Zwar ist die mittlerweile berühmte, 1961 verfasste Rede «Die Schweiz im Kalten Krieg», in der Salis ganz ungewohnt provokativ und polemisch gegen die «antikommunistische Angstpsychose» zu Felde zog, ein sehr eindrückliches Zeitdokument. Aber die Untersuchung des Kontexts zeigt, dass J. R. von Salis - nachdem der Vortrag bereits in einem kleinen, geschlossenen Diskussionskreis eine heftige Debatte ausgelöst hatte - auf ihre Veröffentlichung verzichtete. In der aufgeheizten Stimmung der Deutschschweiz hätte sie ihm tatsächlich Anfeindungen der massivsten Art eingebracht. Als Taktiker wählte er deshalb statt des Gangs in die Öffentlichkeit einen anderen Weg, um seinen Lagebericht an verheissungsvollerem Ort kundzutun: In verschiedenen Grundsatzpapieren unterbreitete er ihn dem Bundesrat, mit dem er ohnehin in persönlicher Verbindung stand und der seine Beobachtungen und Bemerkungen wohlwollend zur Kenntnis nahm. Erst 1968 schien Salis die Zeit für die Publikation der Rede reif - zumal sich die politischen Brennpunkte bis dahin verschoben hatten und der Inhalt bereits selber zu Zeitgeschichte geworden war, wurde sie nun von der Öffentlichkeit ohne Lärm aufgenommen.

Trotz aller vermeintlichen Informiertheit des Publikums ist die Wahrnehmung einer öffentlichen Person nachhaltig von der gängigen Rede über sie geprägt. Vermutlich hätte Jean Rudolf von Salis die französische Form verwendet und von der notwendigen Hinterfragung des «on dit» gesprochen. Seinen Nachlass durch zeitgeschichtliche Forschung bearbeitet zu wissen, war ihm so oder so ein Anliegen.

Meine Quellen: Urs Bitterli - Jean Rudolf von Salis: Historiker in bewegter Zeit (Buch erhältlich), Archiv NZZ und Archiv TA, Schweizerisches Literaturarchiv, besten Dank:)

Jean Rudolf von Salis - Inventar seines Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv:

http://ead.nb.admin.ch/html/salis.html

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